Klimawandel

Wenn die Betreiberfirma das Stromnetz nicht rausrückt

In Baden-Württemberg soll eine Betreiberfirma das Stromnetz abgeben – ein Konkurrent hat ein besseres Angebot gemacht. Doch seit sechs Jahren weigert sie sich. Das kostet die Kommunen Steuergeld. Und blockiert womöglich dringend benötigte Investitionen in die Energiewende.

von Jann-Luca Künßberg , Lena Schubert

559083209
In 20 Jahren wird sich der Stromverbrauch verdoppelt haben. picture alliance / Jochen Tack
Das Wichtigste in Kürze
  • Stromnetze werden immer wichtiger für Deutschlands Energieversorgung.
  • Betreiberfirmen konkurrieren in Vergabeverfahren miteinander.
  • In Südbaden gibt ein Betreiber trotz neuer Vergabe die Netze seit Jahren nicht frei. Das verhindert laut Gemeinden wichtige Investitionen in die Netze.

Ob für Wärmepumpen oder Elektroautos: Der Stromverbrauch in Deutschland wird sich in den kommenden 20 Jahren laut Bundesnetzagentur mehr als verdoppeln. Damit weiterhin genug Strom für alle da ist, müssen die Netze enorm ausgebaut werden. Die Energiewende erfordert Investitionen. Mitunter stocken die Investitionen aber – etwa, weil Betreiber ihre Marktmacht ausnutzen und sich im Dickicht des deutschen Vergaberechts verschanzen.

Zum Beispiel in Baden-Württemberg. Hier, in mehreren Gemeinden Südbadens, hält ein Betreiber das Stromnetz bis zum heutigen Tag unter seiner Kontrolle – obwohl sich die Kommunalpolitik bereits vor sechs Jahren für einen anderen Anbieter entschieden hat und Gerichte das Vergabeverfahren für rechtmäßig erklärten.

Wer darf das Stromnetz betreiben?

Der nicht enden wollende Streit belastet nicht nur kommunale Kassen und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Die Gemeinden beklagen auch, dass der Streit dringend notwendige Investitionen ausbremst. Wenn ein Unternehmen mit so einer Blockade die Ziele der Energiewende konterkariere, erzeuge das „erheblichen Sprengstoff“, sagt Sven-Joachim Otto, Direktor am Bochumer Institut für Berg- und Energierecht.   

In dem Konflikt geht es um sogenannte Stromnetzkonzessionen. Das sind Verträge, mit denen Gemeinden einem Energieunternehmen erlauben, Stromleitungen auf ihrem Gebiet zu unterhalten. Sie werden in der Regel alle 20 Jahre neu ausgeschrieben und Stromanbieter können sich bewerben.

In dem Verbund aus zehn Gemeinden in Südbaden war das Stromnetz über Jahre von dem Anbieter Naturenergie Netze, einem Tochterunternehmen des Energiekonzerns EnBW, betrieben worden. Im Jahr 2019 entschieden die Gemeinden dann, die Netze an einen neuen Anbieter zu vergeben. Ein unabhängiger Gutachter untersuchte, welches Angebot besser zu den von den Kommunen festgelegten Kriterien passt. In Binzen etwa erhielt die bisherige Betreibergesellschaft, die Naturenergie, 87,33 von 100 Punkten. Ihr Herausforder, das Unternehmen Badenova, kam auf 91 Punkte. 

„Wenn es Konkurrenz gibt, dann muss ich mich halt anstrengen.“

Den Zuschlag erhielt also die Badenova, ein Unternehmen im Besitz von fast 100 Kommunen und Stadtwerken im Südwesten. Andreas Schneucker, der Binzener Bürgermeister sagt: „Wir waren ja nicht unzufrieden mit der Naturenergie.“ Aber es gebe bereits seit einigen Jahren kein Monopol mehr. „Und wenn es Konkurrenz gibt, dann muss ich mich halt anstrengen.“ Von dem neuen Angebot der Naturenergie sei er enttäuscht gewesen. 

Neuvergaben für den Betrieb von öffentlichen Infrastrukturen sind zunächst nicht ungewöhnlich. Es ist auch üblich, dass der unterlegene Anbieter diese juristisch anfechtet. So kam es auch in dem Fall aus Südbaden: Die Naturenergie Netze klagte gegen die Vergabe. Das Unternehmen erwirkte beim Landgericht Mannheim 2019 – unmittelbar nach ihrer Niederlage im Vergabeverfahren – sogar einstweilige Verfügungen gegen die zehn Bürgermeister: Falls sie die Netze an die Badenova herausgäben, müssten sie persönlich mit einem Ordnungsgeld von 250.000 Euro rechnen – oder ersatzweise sechs Monaten Ordnungshaft. Der Antrag liegt CORRECTIV vor. Die Naturenergie wollte damit verhindern, dass die Gemeinden den neuen Vertrag unterzeichnen, bevor über die Klage gegen die Vergabe entschieden wurde. 

Erfolg hatte die Naturenergie mit ihrer Beanstandung des Vergabeverfahrens nicht: Das Landgericht Mannheim hielt die Vergabe an die Badenova für rechtmäßig. Die Naturenergie Netze ging zwar in Berufung. Doch auch das Oberlandesgericht Karlsruhe wies den Antrag, mit der die Naturenergie die Übertragung der Netze an die Badenova verhindern wollte, im August 2024 zurück. 

Die Naturenergie gibt die Netze bis zum heutigen Tage trotzdem nicht frei. In zwei Pressemitteilungen vom Januar und April dieses Jahres bekräftigt das Unternehmen seine Auffassung, dass die Entscheidung des Vergabeverfahrens „nicht rechtskonform“ erfolgt sei. Die Beschlüsse des Landgerichts Mannheim und des Oberlandesgericht Karlsruhe hält die Naturenergie nicht für maßgeblich. Denn formal ging dabei nicht um eine endgültige Entscheidung, sondern nur um sogenannte einstweilige Verfügungen: also um vorläufigen Rechtsschutz. Die Auffassung, es habe in dem Streit bereits ein letztinstanzliches Urteil gegeben habe, sei daher „schlichtweg falsch“, schreibt die Naturenergie.

Das Verfahren ist somit seit 2019 in der Schwebe. Die Haushalte in dem Verbund der zehn Gemeinden werden zwar weiterhin mit Strom versorgt. Wie es mit den Netzen weitergeht, ist aber unklar. Die für Investitionen notwendige Planungssicherheit fehlt – und  das seit nunmehr sechs Jahren.

Das Bemerkenswerte: Die Naturenergie Netze ist eine Tochter des Energiekonzerns EnBW. Dieser gehört zu jeweils fast 50 Prozent dem Land Baden-Württemberg und einem Zweckverband oberschwäbischer Landkreise. Die Badenova ist ein Unternehmen im Besitz von fast 100 Kommunen und Stadtwerken im Südwesten. 

Das Land verdient mit, möchte sich aber nicht einmischen

Hier streiten also zwei Unternehmen, die der Daseinsvorsorge und noch dazu der öffentlichen Hand verpflichtet sind. Die Landesregierung weigert sich trotz ihrer milliardenschweren Anteile an der EnBW dennoch, sich an einer Klärung zu beteiligen. Ins operative Geschäft mische man sich nicht ein, sagten sowohl Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) als auch das Landesumweltministerium auf einen parlamentarischen Antrag der SPD. 

Die Badenova klagt nun auf Herausgabe der Stromnetze. Die Naturenergie Netze wiederum wiederholt in ihrer Klageerwiderung vom September dieses Jahres, die Vorwürfe, die sie nach Auffassung der Gerichte bereits in den vorherigen Prozessen nicht belegen konnte: Die Gemeinden hätten sich unzulässig abgesprochen, von einem „offenkundig konzertierten Verfahren“ ist die Rede – und von angeblichen Zusatzpunkten bei der Vergabe für die Badenova, deren Kriterien vorher nicht transparent gewesen seien.

Die Frage der Redaktion, wie sie ihre andauernden Zweifel an dem Verfahren begründet, beantwortet die Naturenergie Netze nicht – sondern verweist auf laufende „konstruktive“ Gespräche mit der Badenova. Die Wahrnehmung geht bei den Streitparteien jedoch weit auseinander: Die Badenova spricht von zähen und schleppenden Gesprächen. Einer Einladung der Kommunen sei die Naturenergie Netze nicht gefolgt. 

Der Landeskartellbehörde für Energie und Wasser in Stuttgart sind für die vergangenen vier Jahren 39 gerichtliche Streitigkeiten bei Strom- oder Gaskonzessionen in Baden-Württemberg bekannt. Alleine 20 davon führt die Naturenergie Netze. In Baden-Württemberg gibt es mehr als 100 größere und kleinere Netzbetreiber.

Wie hoch die Kosten für die Gemeinden inzwischen sind, lässt sich nicht genau sagen. Mehrere Bürgermeister schreiben auf Anfrage von CORRECTIV von Summen zwischen Zehn- und Zwanzigtausend Euro, die in den ohnehin kleinen Kommunen und der angespannten Haushaltslage fehlen. Der Inzlinger Bürgermeister Marco Muchenberger sagt: „Wir geben Steuergeld aus und haben einen erhöhten Aufwand in der Verwaltung, was beides besser in den Prozess der dringend notwendigen Energiewende investiert werden sollte.“

Die Naturenergie weist die Befürchtung, in die Netze werde nicht investiert, zurück.  „Wir investieren weiterhin konsequent in die Modernisierung und den Ausbau der Stromnetze in unserem Versorgungsgebiet. Das schließt explizit auch die zehn südbadischen Zweckverbandsgemeinden ein“, sagte eine Sprecherin des Unternehmens auf Anfrage von CORRECTIV. 

Der Frage nach konkreten Zahlen zu den einzelnen Investitionen kommt sie nicht nach. Das Landesumweltministerium hatte bereits Ende 2024 in seiner Antwort auf eine Kleine Anfrage zu dem Stromnetzstreit geschrieben: „Es ist nicht auszuschließen, dass langwierige Streitigkeiten (…) Investitionen in die Netzinfrastrukturen verzögern können.“

Bürgermeister befürchten Schaden für die Demokratie

Gewichtiger sind den Gemeinden zufolge die indirekten Schäden. Genau beziffern könne sie es nicht, sagt die Bürgermeisterin von Efringen-Kirchen, Carolin Holzmüller. „Aber durch den Schwebezustand, in dem wir uns befinden, bleiben Investitionen in das Netz aus und auch die Mehrleistung, die den Ausschlag für Badenova gegeben hat, entfällt.“ So sei mit der Badenova besprochen worden, dass das örtliche Netz etwa an die Erfordernisse der E-Mobilität angepasst werden müsse. Das habe die Naturenergie nicht gemacht.

Die Gemeinden sehen noch ein anderes Problem. Martin Bächler, Pressesprecher der ebenfalls betroffenen Stadt Neuenburg am Rhein, schreibt: „Schließlich leidet auch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger: Diese nicht enden wollende Auseinandersetzung lässt sich kaum noch nachvollziehbar erklären und schwächt das Vertrauen in Verwaltung und demokratische Prozesse.“

Die Spitzenkandidaten der Landtagswahl halten sich zurück

Freiburgs parteiloser Oberbürgermeister Martin Horn, der qua Amt auch Aufsichtsratsvorsitzender der ­Badenova ist, sagte kürzlich: „Anstatt dass wir uns mutig um die Energie- und Wärmewende kümmern, verbrennen wir sinnlos Steuergelder in Konzessions­streitigkeiten, die vor Ort jahrelang Stillstand bedeuten. Das ist extrem frustrierend.“ Horn hatte deshalb im Januar einen offenen Brief an die Landesregierung initiiert, damit die sich einschalte. Mehr als 50 Bürgermeister aus Baden-Württemberg haben ihn unterschrieben. 

Doch auch dieser Versuch ließ Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) unberührt. Das gilt auch für die beiden, die nach der Landtagswahl im März sein Nachfolger werden wollen. Sein Parteifreund und Spitzenkandidat Cem Özdemir und dessen Konkurrent von der CDU Manuel Hagel ignorieren mehrfache Anfragen dazu, wie sie mit dem Problem umgehen wollen. Und das, obwohl sie die Regierung eines Landes anführen wollen, das jährlich inzwischen dreistellige Millionenbeträge aus den Dividenden der EnBW-Beteiligung schöpft – und weiter Geld in den Konzern pumpt, zuletzt im Juli 1,5 Milliarden Euro.

Warum die Naturenergie so verbissen um die Konzessionen kämpft, ist unklar. Die betroffenen Gemeinden sind sehr klein, es geht insgesamt um etwa 25.000 Einwohner. 

Konterkariert der Streit die Ziele der Energiewende?

Tobias Bringmann, Geschäftsführer des Landesverbandes Kommunaler Unternehmen, zu dem auch etliche Stadtwerke gehören, vermutet, es gehe der Naturenergie um Marktmacht und Einschüchterung. Dem Staatsanzeiger sagte er unlängst: „Ich kenne Gemeinden, die in ihrer freien Entscheidung mit der Drohkulisse beeinflusst wurden, dass Verfahrenskosten die zu erwartenden Konzessionseinnahmengebühren über eine Laufzeit von 20 Jahren übersteigen.“ Auch zu diesem Vorwurf möchte die Naturenergie Netze derzeit keine Stellung beziehen.

Wann über die Klage zur Herausgabe der Netze verhandelt wird, steht noch nicht fest. Die Kommunen halten für den Rechtsstreit schon das nötige Geld bereit: Die Gemeinde Efringen-Kirchen habe 15.000 Euro im Haushalt 2026 eingeplant, schreibt Bürgermeisterin Carolin Holzmüller.

Dieser Artikel ist Teil der gemeinsamen Beteiligungsrecherche „Druck im Kessel – Wie trifft mich die Wärmewende?“ von CORRECTIV und SWR. Die Beteiligten: Recherche: Madlen Buck, Katarina Huth, Jann-Luca Künßberg, Lena Schubert (CORRECTIV) Eberhard Halder-Nötzel, Philipp Pfäfflin, Matthias Zeller (SWR) Recherche und Datenauswertung: Tom Burggraf, Katharina Forstmair, Elisa Harlan (SWR Data Lab) CrowdNewsroom: Marc Engelhardt, Sven Niederhäuser (CORRECTIV) Projektleitung: Justus von Daniels (CORRECTIV), Eberhard Halder-Nötzel (SWR) Redaktion: Justus von Daniels, Frida Thurm, Ulrich Kraetzer Faktencheck: Sebastian Haupt Kommunikation: Esther Ecke, Anna-Maria Wagner, Nadine Winter

CORRECTIV im Postfach
Lesen Sie von Macht und Missbrauch. Aber auch von Menschen und Momenten, die zeigen, dass wir es als Gesellschaft besser können. Täglich im CORRECTIV Spotlight.